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Ästhetik der Gereiztheit

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Frustriert und überfordert: Gereiztheit ist derzeit Mode – und schafft die nötige Distanz. (iStock)

Die Stimmung wirkt angespannt, meine Damen und Herren. Gereiztheit liegt in der Luft. Es scheint in unseren Tagen der gefühlten Zeitenwenden und Kulturbrüche so etwas wie eine kulturelle Mode der Gereiztheit zu geben: Der Diskurs der Überforderung ist in aller Munde. Alle haben Burnout, was man früher Neurasthenie nannte, vor rund 150 Jahren, als man zum letzten Mal ein Zeitalter als «nervös» charakterisierte, leidend unter den Folgeerscheinungen der industrialisierten, urbanisierten und technischen Zivilisation: Reizüberflutung, Zeitmangel, Beschleunigung. Und heute? Heute konstatiert zum Beispiel der deutsche Soziologe Heinz Bude, der sich viel mit Stimmungen, Stimmungslagen und Stimmungslagern befasst, dass bei den nach 1960 Geborenen, die in Frieden und Wohlstand gross wurden, sich allmählich die Überzeugung durchsetze, das Schlimmste liege nicht hinter ihnen, sondern stehe noch bevor.

Dieses Gefühl einer «vergehenden Zeit» nimmt unmittelbar Bezug auf die gefühlten und tatsächlichen Rückschritte, die unsere Gesellschaft in gesundheitlichen, emotionalen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen gemacht hat. Etwa durch die Art und Weise, wie sich das Internet entwickelt hat und heute genutzt wird. Dabei muss man sich gar nicht auf Diffamierungen, Stalking, Hass, Hetze oder den Verlust von Privatsphäre konzentrieren; es reicht diese schwelende Frustration in Form jener parasozialen Interaktion der sogenannten sozialen Netzwerke, wo man unzählige Freunde hat, die man gar nicht kennt, und wo eigentlich nur noch ein Austausch von Erwartungen stattfindet. So schreibt sie sich fort in unsere spätmodernen Tage, die Ambivalenz der Moderne, jene Ungleichzeitigkeit von Technik und Moral.

Absurde Wirklichkeit

Apropos Erwartungen: Die richten sich nun füglich auf die Kunst. Doch da passiert augenscheinlich nicht viel Neues. Abseits von den langweiligen, plakativen Gut-Böse-Performanzen eines hermetischen Regietheaters wird die Kunst ziemlich ratlos, indifferent, fixiert auf Geld und Oberfläche. Der Kunstkritiker Hanno Rauterberg hat neulich in der «Zeit» darauf hingewiesen, dass es unterdessen jedoch weniger die Kunst als die Wirklichkeit selbst sei, die absurd und irreal erscheine. Die Gegenwart negiere sich selbst, etwa in Gestalt von Populisten, die sich die Strategie der künstlerischen Avantgarde der Moderne zu eigen machten: Provokation, Tabubruch, Grenzüberschreitungen, Aussenseiterrolle, Selbstbezug und Selbstentblössung. Und weil gegenwärtig nichts radikaler zu sein scheint als die Realität, können die Künstler nicht einfach weitermachen wie bisher.

Findet Herr Rauterberg und plädiert für eine ironie- und diskursbefreite Ästhetik der Nahbarkeit. Kunst, die wieder tröstet? Ich weiss nicht. Mir scheint, so wie Sie mich kennen, die Lösung eher in einer vermittelnden Position zu liegen, jener der Distanz, einer Ironie, entfernt von der geistlosen Retroseligkeit des Hipstertums, vielmehr zurück zu Sokrates: Ironie als Vermittlerin von Geist und Leben. Ironie braucht Distanz. Gereiztheit schafft Distanz. Das schult die Beobachtung, idealerweise. Viele Künstler sind dauernd gereizt. Viele Humoristen sind dauernd gereizt. Distanz stimuliert den Möglichkeitssinn, den die Gegenwart gerade so gut brauchen könnte, den Sinn fürs Gegenbild, der Welt neu zu begegnen.

Der Beitrag Ästhetik der Gereiztheit erschien zuerst auf Blog Magazin.


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